Eine der bekanntesten Sagen des Ruhrgebietes, die auch in das literarische Werk der Brüder Grimm aufgenommen wurde, handelt vom Zwergenkönig Goldemar :

Vor mehr als 600 Jahren wohnte auf Burg Hardenstein der Zwergenkönig Goldemar. Bei Tisch saß er stets zur Rechten des Ritters Neveling von Hardenberg; man hörte den Zwergenkönig schlürfen und schmatzen, aber er selbst blieb den Augen verborgen, er war nämlich unsichtbar.
Mit seinem Pferd verhielt es sich nicht anders. Es stand im Stall, man hörte es saufen, trampeln und wiehern, aber niemand hat es je erblicken können.
Solange Goldemar auf der Burg wohnte, hatte Hardenstein eine gute Zeit. Die Speisekammern wurden nie leer, und das Weinfaß war stets bis zum Rand gefüllt. Wenn sich einmal Feinde in böser Absicht der Burg näherten, warnte der Zwergenkönig den Ritter, so daß er rechtzeitig Vorkehrungen treffen konnte. Beim gemeinsamen Würfelspiel leerte der Zwergenkönig mit dem Burgherrn manchen Becher guten Weines, und hin und wieder ließ er dabei Harfenspiel erklingen. Viele Leute, geistliche wie weltliche Herren besuchen Goldemar auf Burg Hardenstein. Der Zwergenkönig redete zwar mit allen, aber die Geistlichen konnte er nicht Leiden; oftmals trieb er ihnen die Schamesröte ins Gesicht, indem er ihre heimlichen Sünden vor allen Leuten offenbarte. Den Ritter Neveling, den er seinen Schwager nannte, lehrte Goldemar, sich mit den Worten zu bekreuzigen: Unerschaffen ist der Vater, unerschaffen ist der Sohn, unerschaffen ist der Heilige Geist!
Zu dieser Zeit wohnte auch ein Küchenjunge auf Hardenstein, der unbedingt wissen wollte, wie der Zwergenkönig denn aussähe. Man munkelte, Goldemar habe Hände, kalt wie ein Fisch und weich wie eine Maus – aber es hatte ihn ja kein Sterblicher jemals zu Gesicht bekommen. Dem Küchenjunge jedoch war bekannt, das Goldemar die Angewohnheit hatte, noch zu später Stunde in die Burgküche zu gehen, um sich mit ein paar vom Abendessen übriggebliebenen Happen zu stärken.
Der Junge hatte einen Plan: “Wenn ich nun Mehl und Erbsen auf die Küchenstufe ausstreue, so stolpert Goldemar über die Erbsen, fällt zu Boden und verliert seine Tarnkappe, so daß ich ihn sehen kann, zumindest aber wird sich seine Gestalt im Mehl abzeichnen!“
Gesagt, getan. Der Junge bereitete alles vor, versteckte sich hinter der Küchentür und wartete, eine Stunde, zwei Stunden. Von Herbede klang der Glockenschlag zwölfmal herüber – Mitternacht. Plötzlich kam etwas durch den Flur, der Junge hörte es ganz deutlich. Knarrend öffnete sich die Tür, ein Schatten huschte herein, da – ein Aufschrei, der Zwergenkönig stolperte über die Erbsen und fiel polternd zu Boden.

 

In diesem Augenblick sprang der Küchenjunge hinter der Tür hervor und erblickte Goldemar. Dieser aber schnappte den Jungen, außer sich vor Wut, riß ihn auseinander und kochte und briet ihn anschließend in großen Töpfen. Diese Gerichte ließ er sich auf sein Turmzimmer bringen, das bis auf den heutigen Tag “Goldemars Kammer “heißt, und dort verspeiste er den Küchenjungen. Sein Schmausen war begleitet von Musik und Gesang, sonst war es mucksmäuschenstill in der Burg. Kein Mensch wagte auch nur einen Ton von sich zu geben, denn alle hatten große Furcht vor dem unheimlichen Treiben. Neveling von Hardenberg war es, der am nächsten Morgen seinen ganzen Mut zusammennahm und als erster nach dem Rechten sah. Er ging also zu Goldemars Turmkammer und sah, das über der Tür etwas geschrieben stand. Beim Nähertreten durchlief ihn ein kalter Schauder, denn die Worte ergaben einen Fluch : “Burg Hardenstein soll künftig so unglücklich sein, wie sie vormals glücklich gewesen ist, und all ihr Gut soll zerrinnen, solange nicht drei Generationen derer von Hardenberg zugleich am Leben sind!“ In der Folgezeit aber lebten niemals Großvater, Vater und Sohn in dem alten Gemäuer zusammen, und die Familie von Hardenberg starb schon vierzig Jahre nach diesem schicksalsschweren Fluch im Jahre 1439 im Mannesstamme aus. Die einstmals stolze Burg zerfiel im Laufe der Jahrhunderte zu der noch heute stehenden Ruine. Den Zwergenkönig Goldemar hat man seit jener Nacht nicht wieder in dieser Gegend gesehen.

 (Mit freundlicher Genehmigung des Autors, aus: Das große Bochumer Sagenbuch von Dirk Sondermann, Verlag Peter Pomp, Essen  , ISBN: 3-89355-067-4 )